Protagoras und Sokrates waren keine Gegner. Beide waren Kinder der gleichen weltgeschichtlichen Epoche und gehörten der schon fortgeschrittenen Aufklärung, der Generation eines Perikles, Thukydides, Euripides. Streben, Interessen und Methode waren gemeinsam: Ihr Zuf rage stellen des Gebräuchlichen, Mensch und Gesellschaft, die Dialektik.
Diese Arbeit versucht durch Interpretation und Vergleichung von Text-Stellen, insbesondere aus den xenophontisehen Memorabilien und den platonischen Dialogen, aufzuzeigen, daß Protagoras und Sokrates in den entscheidenden Themen oder Problemen ihres Zeitalters gleicher Meinung waren:
1. Die dem Sokrates zugeschriebene Wendung der Philosophie von der Natur zu dem Menschen ist vor allem schon Protagoras zuzuschreiben. Durch analogen pessimistischen Überlegungen im Bezug auf die Möglichkeit und den Wert der Naturforschung sind sie beide dazu bewegt, sich mit dem Menschen und seinen Problemen zu beschäftigen.
2. Beide nahmen die gleiche Stellung zum traditionellen Polytheismus ein. Protagoras, direkt, und Sokrates, indirekt, lehnten die Götter ab, und zeigten kein Interesse dafür, die Existenz und die Eigenschaften der Götter zu erforschen.
3. Beide interessierten sich vornehmlich für die Erziehung und besonders für die «politische Erziehung»; d.h. beide lehrten die «politische Tugend», und bezweckten, die Jungen tüchtig im Verwalten der öffentlichen Angelegenheiten zu machen.